Über die aktuelle Krise der Nachhaltigkeit


Nun haben wir schon eine Regierung mit Beteiligung der Grünen, und trotzdem hat man derzeit den Eindruck, dass alles andere wichtiger ist als der Umweltschutz. Eine kleine, verzweifelte Bestandsaufnahme zur Situation der Nachhaltigkeit in Politik, Medien und Gesellschaft.


Die aktuelle Krise der Nachhaltigkeit ... in der Politik


Trotz einer in Teilen grünen Bundesregierung scheinen die Bemühungen im Kampf gegen den Klimawandel beinahe zum Stillstand gekommen zu sein. Ein subjektiver Eindruck vielleicht? Mag sein. Doch allzu wenig höre ich von der Bundesumweltministerin Steffi Lemke (wie mir gerade sehr deutlich wird, weil ich vorsichtshalber noch einmal gegoogelt habe, ob sie auch wirklich die Umweltministerin ist) oder von Cem Özdemir (das ist der Landwirtschaftsminister und damit der Chef von einem ziemlich klimarelevanten Politikbereich); selten sind die Meldungen, die über die Bemühungen und Erfolge der Regierung im Klimaschutz berichten. Vielleicht informiere ich mich ja zu wenig, schaue zu wenig fern, lese zu wenig Zeitung und höre zu wenig Radio. Doch schaut man sich auf der Website der Bundesregierung um - eigentlich ja die direkteste Quelle für solche Nachrichten, wenn es sie denn gäbe -, so findet man tatsächlich nicht viel. In der Rubrik „Themen“ kommen die Punkte „Energie und Klimaschutz“ und „Nachhaltigkeitspolitik“ an Stelle 13 und 14 – nach dem Krieg in der Ukraine, nach den Entlastungen in der Energiekrise und nach 3 (!) Corona-Themen.

Leider ist auf den Seiten der Bundesregierung nicht zu erkennen, welche Maßnahmen zur Abmilderung des Klimawandels bereits ergriffen worden sind. Die letzte Aktualisierung der Deutschen Nachhaltigkeitsstategie (die sich an den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen orientiert und daher auch soziale Nachhaltigkeit als Ziel mit einschließt) wurde 2021 noch von der Merkel-Regierung vorgenommen, der letzte Fortschrittsbericht zur Nachhaltigkeitsstategie stammt offenbar aus dem Jahr 2012 (hier so vorsichtig formuliert, da so schwer zu glauben, über anderslautende Informationen und Berichtigungen freue ich mich).


Foto: Flyer unbekannter Herkunft. Auf der Rückseite befindet sich dieser Link zu Youtube.

Dort, wo die Bundesregierung dann doch Klimaschutzmaßnahmen vornimmt oder diese plant, schießt sie zu oft am Ziel vorbei – und zwar so sehr und so kontraintuitiv, dass man sich fragt, ob es denn wirklich so schwer sein kann, (Klima-)Politik zu machen.

Hier die prominentesten Beispiele der letzten Zeit:

  • Nach dem Beginn des Russland-Ukraine-Kriegs subventionierte die Bundesregierung die Benzinpreise, anstatt die aus einer Preiserhöhung potenziell entstehenden Regulierungseffekte zugunsten der Umwelt (d.h. ein Rückgang des Autoverkehrs) mitzunehmen
  • Es wird ein 9-Euro-pro-Monat-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr eingeführt, die Preise im Bahn-Fernverkehr steigen jedoch immer weiter an - offiziell erst zum Fahrplanwechsel im Dezember 2022 (um 4,9%), gefühlt jedoch schon seit dem Frühjahr 2022. ("Gefühlt" ist hier natürlich ein schlechter Ratgeber, aber ich kann die Preissteigerungen nicht belegen, S.R.)
  • Die Einführung eines Tempolimits auf den Autobahnen, die als „niedrighängende Frucht“, also ein leicht umsetzbares und emissionseffektives Ziel gilt, wird trotz breiter Befürwortung in der Gesellschaft weiterhin abgelehnt
  •  Wie im Koalitionsvertrag angekündigt, werden die deutschen Kohlekraftwerke schon 2030 statt erst 2038 geschlossen – als Trostpreis erhielt der Kohlekonzern RWE jedoch das Recht, das Dorf Lützerath im Rheinischen Revier doch noch abzubaggern
  •  Verkehrsminister Wissing legt ein „Sofortprogramm Verkehr“ vor, das nach übereinstimmender Meinung von Verkehrs- und Klimaexpertinnen die Emissionsziele des Klimaschutzgesetzes bis 2030 weit verfehlt, im Prinzip also vertane Arbeit ist
  • Nach dem Wegbruch russischer Erdgaslieferungen setzt die Bundesregierung auf Flüssiggas und schließt für dessen Lieferung Langzeitverträge ab, u.a. mit Katar. Fracking-Gas wird als Energiequelle nicht ausgeschlossen
  • Bundeskanzler Olaf Scholz hat vorgeschlagen, trotz anderslautender Pläne der G7-UmweltministerInnen die Förderung fossiler Rohstoffe außerhalb Europas weiterlaufen zu lassen und z.B. die Erdgasförderung im Senegal zu unterstützen.

Ja, Politik ist komplex und die genannten Sachverhalte einfach sehr prominente Beispiele der letzten Zeit. Ja, sie sind nur ein Bruchteil der Themen, die die Regierung bearbeitet. Und ja, viele ExpertInnen sagen auch, dass es im Klimaschutz vorangeht, seit die Grünen in der Regierung sind. Gleichzeitig ist die Häufung von offensichtlichen Fehlleistungen - bei einem parallelen Mangel an echten Erfolgen im Klimaschutz, ja überhaupt Bemühungen für selbigen - doch sehr beunruhigend angesichts der Hoffnungen, die viele Menschen in die neue, "grüne" Regierung gesetzt hatten - und vor allem angesichts der großen Aufgaben, die zu bewältigen sind, um den Klimawandel einzudämmen (aufhalten lässt er sich nicht mehr). Erdrückend, frustrierend, unerklärlich sind die Langsamkeit, die Visionslosigkeit und die Bräsigkeit, mit der gehandelt (bzw. nicht gehandelt wird).

Denn klar ist: Eigentlich müßte eine viel größere Baustelle aufgemacht werden, und zwar die dringend notwendige ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft jenseits des Wachstumsgedankens, und damit verbunden eine radikale Konsumwende. Wir können ganz einfach nicht so weiterwirtschaften wie bisher, sondern müssen uns – und zwar ab sofort – in unserem Verbrauch von Ressourcen, Rohstoffen und Energie auf ein Mindestmaß beschränken. So lange die Bundesregierung dies nicht verstehen will (oder zwar verstanden hat, aber nicht umsetzen möchte), sind alle andere Maßnahmen ohnehin nur Kosmetik.

Dass sie es verstanden hat, ist indes fraglich. So heißt es im Koalitionsvertrag im allerersten Satz im Themenbereich Klimaschutz (S. 24): "Unsere Wirtschaft legt mit ihren Unternehmen, den Beschäftigten sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern die Grundlage für unseren Wohlstand.“ Unternehmen, Beschäftigte, VerbraucherInnen: Die Regierung arbeitet mit einem Wohlstandsbegriff, der auf materiellen Gütern, auf Konsum und auf Wirtschaftswachstum fußt. Was wir aber eigentlich bräuchten, ist eine Neudefinition von Wohlstand, beispielsweise eine, die danach fragt, wie sehr Menschen sich in unserem Land entfalten können (Tim Jackson) und wie sehr es ihnen möglich ist, sich weiterzuentwickeln und an der Gesellschaft teilzuhaben. Eine Definition, die danach fragt, wieviel genug ist, die Zeit höher bewertet als Geld und das selber Tun höher als das Kaufen. Das berühmte „Weiter so“, in dem wir weiter kaufen, verbrennen, entsorgen, zerstören, kann bei knapper werdenden Rohstoffen und Brennstoffen nach einfachen Gesetzen der Logik nicht mehr funktionieren. Und wenn es keine Rohstoffe mehr gibt, können auch die daraus entstehenden Produkte nicht mehr hergestellt werden. Die damit einhergehenden Arbeitsplatzverluste sorgen zusätzlich dafür, dass die Menschen auch gar kein Geld mehr haben, um Dinge zu kaufen. Spätestens dann ist es aber an der Zeit, den Begriffen Glück, Wohlergehen und Wohlstand einen neuen Inhalt zu geben. 

Warum aber warten mit dieser neuen Definition und mit einer ernsthaften gesellschaftlichen Auseinandersetzung darüber, wie wir in Zukunft (und zwar in einer sehr nahen Zukunft schon) leben wollen? Weil sich in der Zwischenzeit doch noch etwas Geld verdienen lässt – glauben offensichtlich sowohl Regierung als auch Wirtschaft. Erklärtes Ziel ist der Grüne Kapitalismus, der dank noch zu (er-)findender Supertechnologien unsere Wirtschaft, unseren materiellen Wohlstand und unsere verwöhnten Hintern retten wird. Im Koalitionsvertrag heißt es entsprechend hoffnungsvoll: „Neue Geschäftsmodelle und Technologien können klimaneutralen Wohlstand und gute Arbeit schaffen“, das Ganze selbstverständlich unter „Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit“ deutscher Unternehmen (S. 64), also nur solange die deutsche Wirtschaftskraft nicht in Gefahr ist. Solche Aussagen sind nicht nur egoistisch, kurzsichtig und dumm, sondern auch Greenwashing und Fake News. Es gibt eben keinen nachhaltigen Kapitalismus, kein nachhaltiges Wachstum. Schon jetzt fressen die Kosten für die ökologischen und sozialen Wachstumsschäden die finanziellen Wachstumsgewinne wieder auf. Dass die Regierung nach wie vor nicht bereit ist, dies den Menschen im Land zu vermitteln, ist nichts anderes als Lügen. Man gaukelt der Bevölkerung vor, dass alles so weiter gehen kann wie bisher und wir einfach nur ein bißchen mehr E-Auto fahren müssen, mit dem Ergebnis, dass alles so weitergeht wie bisher – bis plötzlich gar nichts mehr geht und viel schmerzhaftere Einschnitte notwendig werden, als wenn wir jetzt, geordnet und strukturiert den Wandel angehen. 

Auch die aktuelle Bundesregierung weigert sich, den Menschen klipp und klar zu sagen, wie ernst die Lage ist, und ihnen den Wohlstandszahn zu ziehen. Dabei bräuchte das Land gerade in dieser Situation eine ehrliche Bestandsaufnahme, denn nur aus der kann man dann die richtigen Schlüsse ziehen und entsprechend planen, wie es eigentlich weitergehen soll. Doch auch mehr als ein Jahr nach der Übernahme der Amtsgeschäfte der neuen Regierung ist nicht klar, wie genau wir dem Klimawandel begegnen möchten. Wie möchten wir zusammen leben, wenn die Ressourcen knapp, das Geld rar und das Klima unerträglich sind? Wieviel Energie steht uns noch zu Verfügung, wenn die fossilen Rohstoffe aufgebraucht sind - und wann sind sie voraussichtlich aufgebraucht? Wieviele Module regenerativer Energien (z.B. Wind- und Solarkraft) müssen wir konkret wo und wann bauen, und woher kommen das Geld und die Rohstoffe dafür? Wofür möchten wir Energie in Zukunft überhaupt verwenden? Für welche Fortbewegungsmöglichkeiten entscheiden wir uns, und auf welche möchten wir verzichten? Nur mit einem konkreten Plan kann man den großen Herausforderungen des Klimawandels begegnen, ein Plan, in dem für die nächsten Jahrzehnte ziemlich genau, mit konkreten Zahlen und zu erreichenden Meilensteinen festgelegt ist, was die Politik, die Wirtschaft und die BürgerInnen tun müssen. 

Sogar Joe Kaeser, Vorstandschef von Siemens Energy, sagt: „Wir brauchen endlich einen tragfähigen Plan. Einen tragfähigen Plan in einer konzertierten Aktion. Das Aneinanderreihen von Einzelstückwerken ist keine Lösung. Dieser Plan muß zeigen, was wann wie gemacht wird, wer verantwortlich ist und was es kostet und was es für die Gesellschaft und die Wirtschaft bedeutet. {…} Ein Weiter so führt definitiv in den Abgrund {…}.“ Ein solcher Plan benötigt jedoch eine ernsthafte gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, wie wir leben wollen, und eine visionäre, enthusiastische Regierung. An beidem fehlt es leider.  

Exkurs: Kriminalisierung der Umweltbewegung

Besonders erschreckend ist in letzter Zeit dabei, wie die Regierung und führende PolitikerInnen die Umweltbewegung kriminalisieren:

  • Renate Künast hat die Klimaproteste der Letzten Generation und von Extinction Rebellion schon mehrfach als undemokratisch bezeichnet. Auch im November 2022 sagte sie über die Letzte Generation: „Ihre Vorstellung ist es, dass wir exakt tun, was sie fordern. Das ist schlicht ein Mangel an demokratischen Prinzipien.“ Hätte Renate Künast sich diesen Kommentar auch zu den Protesten im Hambacher Forst geleistet, wo gefordert wurde, dass der Wald stehengelassen wird - und dieser Forderung nach einer Demonstration mit ca. 40.000 Teilnehmenden nachgegeben wurde? Auch hier wurde die Bewegung, d.h. die Antikohlebewegung und die Waldbesetzung, zunächst kriminalisiert, wie der Einsatz von 31.000 (!) PolizistInnen in den drei Räumungswochen im September und Oktober 2018 zeigt. Erst die Großdemo, die von einem breiten Bündnis aus NGOs und vielen BürgerInnen aus der "Mitte" der Gesellschaft getragen wurde, sorgte dafür, dass die Rodung des Hambacher Forsts abgeblasen wurde. Der Verdacht regt sich, dass für Renate Künast nur solche Proteste demokratisch sind, die aus dem Mainstream kommen, während kleinen Protestgruppen keine Legitimation gewährt wird. Straßenprotesten einen Mangel an demokratischen Prinzipien zu unterstellen, ist allerdings selbst ganz schön undemokratisch.
    Ironisch bei dem Ganzen: Die Letzte Generation fordert mit den Straßenblockaden in Berlin lediglich die Einführung eines Tempolimits und die Verlängerung des 9-Euro-Tickets und nicht die Abschaffung des Kapitalismus. 
  • Cem Özdemir und Omid Nouripour kritisieren die Straßenblockaden ebenfalls, Nouripour mit der Einordnung dieser als bedrohend für die Menschen, als Ultimatum an die Politik und als Gefährdung der kritischen Infrastruktur. Herrje, wo soll man bei dieser Schwurbelei anfangen, außer, dass das Nichtstun der Bundesregierung in der Frage des Klimawandels ja all das ist: bedrohend für die Menschen, ein Ultimatum (ans Überleben) und ebenso eine Gefährdung der Infrastruktur (in Form von Wasser, Nahrung, Gesundheit und Sicherheit vor Wetterextremen)?
  • Die Protestform der Straßenblockaden gefährde Menschenleben, sagt auch Robert Habeck. Dabei gefährden nicht die Straßenblockaden Menschenleben (dies hat die Berliner Feuerwehr im Fall der ums Leben gekommenen Fahrradfahrerin bestätigt; vorgeworfen worden war der Protestbewegung, dass sie das schnelle Anrücken eines Bergungsfahrzeuges verhindert habe), der Klimawandel und das fehlende Handeln der Bundesregierung tun dies. Und die fehlenden Radwege und die in Deutschland nach wie vor nicht verpflichtenden Abbiegeassistenten in LKWs.
  • Bundeskanzler Olaf Scholz sagt, die Klimaproteste der Letzten Generation seien "nicht zielführend". Das ist ein bißchen lustig, denn an wem liegt es denn, dass sie nicht zielführend sind? Vielleicht ja an dem, der die Richtlinienkompetenz im Land hat.




In den Medien 


Begleitet wird die Ignoranz des Politikbetriebs von genauso ignoranten Medien. Zwar hat die Berichterstattung über Nachhaltigkeitsthemen quantitativ zugenommen, die Qualität lässt jedoch zu wünschen übrig. Genau wie bei den PolitikerInnen fragt man sich auch bei JournalistInnen, ob sie wirklich so wenig über den Klimawandel wissen - oder ob sie ihr Wissen vielleicht einfach für sich behalten wollen? Kann ja sein - wäre für guten Journalismus aber eher ungünstig.

Die Bandbreite der schlechten Berichterstattung reicht dabei von Unterkomplexität bis zur Verbreitung von Unwahrheiten. Schaut man Nachrichten, hört Radio oder Podcasts oder liest Zeitung, laufen einem die verschiedensten qualitativen Mängel über den Weg. In Interviews mit PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen fragen JournalistInnen kaum nach, sondern nehmen Gesagtes einfach so hin, mit der Folge, dass das Gesprächsniveau auf Kindergartenebene dahindümpelt, PolitikerInnen nicht zur Rechenschaft gezogen werden und die Expertise der WissenschaftlerInnen ungenutzt bleibt. Der Deutschlandfunk - und mit ihm sicher viele andere Medien - schafft es regelmäßig, sich selbst nicht hinterfragend erst über den Klimawandel und eine Minute später über das Bruttoinlandsprodukt und die aktuellen Wachstumsprognosen zu berichten. In einem Zeit-Artikel liess die Autorin in einem Nebensatz mal eben so die Bemerkung fallen, Unverpackt-Läden seien teuer - offenkundig ohne Recherche und ohne die Aussage zu begründen oder in einen Kontext zu stellen. Da aus Sprache ganz schnell Wirklichkeit werden kann, hat gedankenlos Dahingeschriebenes dieser Art das Potenzial, Existenzen zu vernichten - gut für die ZEIT in diesem Fall, in der seitdem schon zwei Artikel zur Krise der Unverpackt-Läden erschienen sind (hier und hier).

Natürlich soll eine Zeitung ihren AutorInnen keine festgelegte politische Richtung, keine zu treffenden Aussagen vorgeben. Eine Autorin schert sich halt um Unverpackt-Läden, die andere tut es nicht. Das Problem ist nur, dass gewissenhafte Recherche zu den Grundpfeilern von gutem Journalismus gehört - und JournalistInnen immer auch eine gesellschaftliche Verantwortung haben. Beim Thema Klimawandel ist diese Verantwortung besonders groß, zum einen, weil alle Menschen davon betroffen sind, zum anderen, weil die Folgen des Klimawandels mit Hunger, Durst, Kriegen, Flucht und mit der radikalen Veränderung unseres Lebensstils so absolut sind. Rätselhaft ist daher, warum JournalistInnen nicht häufiger nachfragen, Gesagtes nicht stärker anzweifeln, sie nicht mehr wissen wollen. Letzteres ist wahrscheinlich Symptom und Ursache zugleich: Ein/e JournalistIn ist nur so gut wie die Fragen, die sie/er sich selber stellt. Und wo keine Fragen sind, stellt man sie natürlich auch niemand anderem.

So betrachtet ist der deutsche Journalismus ein Abbild der deutschen Klimapolitik und des Klimabewusstseins in der deutschen Bevölkerung: Er ist unteres Mittelmaß. In gewisser Weise ist dieses Spiegeln der Gesellschaft ganz natürlich: Hinter jeder/jedem JournalistIn steckt ein/e ganz normale StaatsbürgerIn. Dennoch würde man JournalistInnen zutrauen - und es doch eigentlich von ihnen erwarten dürfen - ein bißchen gebildeter, ein bißchen neugieriger, ein bißchen kritischer und gewitzter zu sein als wir alle. So zumindest die Jobbeschreibung eines Journalismus, wie ich ihn mir vorstelle. Würde dieses Ideal gelebt, hätten wir die Chance, wegzukommen von dem nun seit Jahren andauernden, nicht besonders tiefgehenden Feststellen von Tatsachen (es gibt einen Klimawandel) hin zum Benennen von Fehlern und zum Ausloten und gemeinsamen Erörtern von Möglichkeiten und Notwendigem. 

Bild (BUND Bundesverband/Instagram): Auf die Frage, ob man bereit wäre, für die Einhaltung des 1,5-Grad-Klimaziels den eigenen Lebensstil zu ändern, antworteten 53 Prozent mit Nein.




In der Gesellschaft

Und natürlich sind es auch wir alle. Wir, die trotz besseren Wissens fliegen, Auto fahren, Fleisch essen, unfaire Kleidung kaufen, überkonsumieren. Wir, die wieder mal Fünfe grade sein lassen, denn die anderen tun das ja auch, und wieso soll ich, und müßte nicht erstmal, und darauf kommts doch jetzt nicht an. Wir, die alles andere für wichtiger halten und uns das auch allzu gerne einreden lassen, denn dann müssen wir uns auch nicht ändern. Lieber hoffen wir, dass es vielleicht ja doch nicht so schlimm wird, auch wenn die Prognosen sagen: Es wird schlimm. Wir sind die, die denken, dass E-Autos und E-Bikes und E-Roller die Mobilitätswende sind (gleich mal noch ein E-Auto subventionieren lassen), LED-Lampen die Energiewende (gleich mal noch ne Lichterkette aufhängen) und Recycling-Plastik die Lösung des Abfallproblems. Wir sind auch all diejenigen, die tatsächlich immer noch kein Wissen haben über den Klimawandel und was man selber tun kann, um ein bißchen mitzuhelfen im Kampf dagegen. Wir sind entweder die, zu denen die Informationen einfach noch nicht vorgedrungen sind, und zugegeben, die Informationen sind eben oft auch einfach nicht gut genug (siehe oben). Oder wir sind die IgnorantInnen, denen es tatsächlich einfach egal ist, was in Zukunft passiert – in ihrem eigenen Leben (tragisch genug) und in dem anderer. 

Alle zusammen haben wir nach wie vor viel zu oft das Gefühl, doch eigentlich ein Recht zu haben auf all den „Wohlstand“ – auf 2 Autos pro Haushalt, auf Parkplätze, auf Straßen ohne Schlaglöcher, auf Häuser mit 200 Quadratmetern, auf Urlaubsreisen in den Pfingst- und in den Sommer- und in den Herbstferien, auf die Flugreise nach Mallorca und auf die nach New York, auf „Shopping“, auf Spargel im Winter und auf Kaffee im Pappbecher. Und wir vergessen, dass all dies nicht normal ist, sondern extrem. Extrem luxuriös nämlich.






Foto: Ergebnis einer Umfrage der Nachhaltigkeitsberaterin Kerstin Mayer auf Instagram. Auf die Frage, ob (Plastik-)Müll noch ein Thema, d.h. wichtig, für die Befragten ist, antwortete keine einzige Person mit "Na klar".

Exkurs: Unverpackt-Läden in der Krise

Auf billige Lebensmittel stehen wir ja sowieso, wir Deutschen. Seit Corona verzeichnen Bioläden einen Umsatzrückgang von 20 bis 30%. Unverpackt-Läden trifft es besonders hart; 2022 haben bereits 41 Unverpackt-Läden bundesweit geschlossen. Woran liegts? Die Branche grübelt, und die Gründe sind wahrscheinlich vielfältig. Doch sicherlich spielt eine Rolle, dass

  • KundInnen das Einkaufen im Unverpackt-Laden als zu langwierig empfinden und während der Corona-Beschränkungen lieber schnell in einem Supermarkt einkaufen gegangen sind
  • sie Einkaufsmöglichkeiten mit Vollsortiment genutzt haben, d.h. auch hier wieder die Supermärkte
  • sie unsicher waren, ob Unverpackt-Läden während einer Pandemie hygienisch genug sind
  • KundInnen preisbewusster einkaufen, insbesondere seit der Energiebeschaffungskrise, Unverpackt-Läden aber den Ruf haben, teuer zu sein
  • von Politik und Medien suggeriert wird, dass das Thema Klimaschutz und Nachhaltigkeit derzeit nachrangig sind.

Für letzteres spricht, dass auch Geschäfte für faire Mode und sogar Bio-Supermärkte von starken Umsatzrückgängen betroffen sind, es sich also nicht nur um ein Problem der Unverpackt-Läden handelt, sondern der ganzen Bio-Branche. Die Unverpackt-Läden sind jedoch noch sehr jung, verdienen auch in guten Zeiten ihr Brot schon sehr hart (wie jeder inhaberinnengeführte Bioladen) und haben keine Rücklagen. Sie sind jetzt deshalb einfach besonders schnell gezwungen, aufzugeben.

Das ist schade. Denn Unverpackt-Läden waren der Versuch, den Deutschen eine Wertschätzung für gute Lebensmittel beizubringen. Ein Versuch, der gescheitert ist. Hierzulande geht man lieber ins Kaufland, wo alles billig und verpackt ist und man sich nicht dafür zu interessieren braucht, woher eigentlich ein Produkt kommt, was die/der LandwirtIn dafür bekommen hat und ob die Tomate nach Tomate schmeckt. Man braucht sich im Kaufland deshalb nicht für diese Fragen zu interessieren, weil das Kaufland diese Fragen selbst nicht stellt. Und weil all die anderen Menschen, die dort einkaufen, sich auch nichts fragen, und man kann dann zu diesen anderen Menschen dazugehören, ohne schlechtes Gewissen, und das ist der Vorteil vom Kaufland und allen Discountern und konventionellen Supermärkten: Man wird entlastet. Entlastet von allen Verantwortlichkeiten als KonsumentIn, entlastet davon, unsere Welt und unser eigenes Leben hinterfragen zu müssen, und entlastet von der Entscheidung, ob ich mir lieber Lebensmittel oder lieber ein Auto kaufe, denn wenn man im Kaufland kauft, geht beides!

Im Unverpackt-Laden dagegen muss man schon ein bisschen mitmachen: Man muss die Schilder lesen, weil es ja keine bunten Packungen gibt, auf die man anspringen kann. Man muss die Lebensmittel selber abfüllen. Man soll sogar seine eigenen Gefäße mitbringen anstatt einfach gedankenlos zum Einkaufen zu marschieren, Verzeihung, mit dem Auto zu fahren. Man soll da sogar selber entscheiden, wieviel man von welchem Produkt benötigt – dabei soll mir das doch eigentlich eine Packung sagen. Und ich muss mir überlegen, was ich mit den Lebensmitteln anfangen soll, während auf einer Verpackung meist schon ein Bild drauf ist, wie das Lebensmittel auf dem Teller aussieht. Im Unverpackt-Laden kommen wir kurz und gut einfach ganz schön dolle mit unseren Lebensmitteln in Kontakt – was wir aber gar nicht mehr gewohnt sind, seit wir Tiere halten wie die Tiere, uns von Fertigprodukten er“nähren“ und denken, Erdbeeren wachsen das ganze Jahr.

Unverpackt-Läden sind also Orte, an denen wir uns mit unseren Lebensmitteln beschäftigt haben – und an denen wir uns für unsere Lebensmittel Zeit nahmen. Viele dachten und denken zwar immer, das dauert da zu lange. Und zugegeben, schnell geht es im Unverpackt-Laden nicht, auch wenn geübte Unverpackt-Einkaufende teilweise eine atemberaubende Geschwindigkeit im Abfüllen an den Tag legen. Aber schnell geht es im Edeka auch nicht, wie eigentlich jede/r weiß, die/der nachmittags um 5 schon mal „schnell“ noch ein Stück Butter kaufen wollte und dann in der Kassenschlange strandete. Wer sich jedoch auch „schnell“ ernährt (statt selbst frisch zu kochen), wer „schnell“ isst (statt genussvoll an einem schönen Tisch), für die/den ist es natürlich auch vollkommen unlogisch, Zeit in den Kauf von Lebensmitteln zu investieren.  

Teuer sind Unverpackt-Läden übrigens nicht. Denn:

  • Wir vergleichen die dortigen Preise nur gern mit den unterirdisch billigen Lebensmitteln, die es sonst so in Deutschland gibt, und klar ist es im Unverpackt-Laden dann „teurer“ – genauso wie es im Bio-Supermarkt „teurer“ ist. Darüber motzt nur niemand.
  • Auch im Unverpackt-Laden gibt es Produkte, die weniger (!) oder gleich viel kosten wie die im Bio-Supermarkt oder im konventionellen Supermarkt. Im Silo in Konstanz sind z. B. Hartweizengrieß und glutenfreies Lammsbräu-Bier günstiger als im Alnatura. Schade für jene, die sich vor lauter Vorurteilen solche Schnäppchen entgehen lassen.
  • Im Unverpackt-Laden gibt es meistens Bio-Lebensmittel (nicht nur EU-Bio, sondern auch Bioland und Demeter), und die sind nun mal in der Tat „teurer“. Die Lebensmittelpreise in einem Unverpackt-Laden mit denen in einem Edeka zu vergleichen ist daher der berühmte Vergleich von Birnen mit Äpfeln.
  • Und um noch mal die alte, aber oft vergessene Leier anzustimmen: Was ist denn wirklich teuer? Das Einkaufen in kleinen, inhabergeführten Läden, die unsere Stadtbilder erhalten - von Bio-Lebensmitteln, die unserer Gesundheit gut tun und die die Bio-Diversität, das Bodenleben, den Wasserhaushalt und die Wasserqualität schützen? Oder das Einkaufen bei Großkonzernen, in deren weit entfernte Zentralen unsere hart verdienten Penunzen wandern - von Lebensmitteln, die nicht nur hochverpackt sind, sondern auch hochverarbeitet, und die für den Verlust an Bio-Diversität, verschwundene Vielfalt bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Überdüngung, Wasserverschmutzung sowie für ausgelaugte Böden verantwortlich sind? Letztere Variante zieht enorme Folgeschäden nach sich, und die sind dann wirklich teuer. Nicht die Lebensmittelkonzerne zahlen sie, sondern wir, die Steuerzahlenden. Ziemlich unklug daher, nicht gleich gute Lebensmittel in guten Geschäften einzukaufen.

So oder so, ohne Unverpackt-Läden wird die Einkaufslandschaft ärmer werden. Ob die durch die Unverpackt-Nachfrage entstandenen neuen Produkte (z.B. unverpackte Kosmetik) und neue, nachhaltige Verpackungslösungen (Bulk, Mehrweg) überleben werden, wird zu sehen sein. Verloren gehen wird aber wohl ein großes Stück achtsamer, nachhaltiger Einkaufskultur. Vielleicht halten sich wenigstens die „normalen“ kleinen Bioläden, Marktbeschicker und Hofläden; es wäre ihnen zu wünschen.

 

Susan Rößner, November 2022




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