Warum es beim Plastikvermeiden nicht ums Thema Abfall geht
Nicht nur zumindest. Denn so wichtig es ist, das Plastikmüllaufkommen zu reduzieren: Der Wert des Plastikvermeidens liegt auch in anderen Dingen.
1) Plastik vermeiden ist ein Beitrag zur Abmilderung des Klimawandels
Dass wir die Umwelt schützen, indem wir weniger Plastik konsumieren, ist klar wie Kloßbrühe – schließlich fällt weniger Abfall an und es kann weniger Müll unkontrolliert in die Natur gelangen. Aber was hat unser Plastikkonsum mit dem Klimawandel zu tun? Geht es da nicht um CO2 und sonstige Emissionen? Plastik qualmt ja schließlich nicht…
Oder etwa doch? 2019 verursachte der Life Cycle von Kunststoff laut einer Studie des CIEL (Center for International Environmental Law) weltweit 850 Millionen Tonnen CO2 - das Äquivalent zu Emissionen von 189 Kohlekraftwerken mit einer Leistung von 500 Megawatt. Jeder Schritt im Lebenskreislauf von Kunststoff ist mit Emissionen verbunden: die Gewinnung von Rohöl und anderen Kunststoffbestandteilen (Gas, Kohle, Zusatzstoffe), die Herstellung, der Transport, die Entsorgung und das Recyling. Sogar das Verwittern von Kunststoff in der Umwelt setzt Treibhausgase frei.
Die Emissionen sollen sogar noch steigen: Für das Jahr 2050 wird vorhergesehen, dass aufgrund der Plastikherstellung weltweit Emissionen äquivalent zu 600 Kohlekraftwerken entstehen werden. Der Grund: Der Plastikkonsum wird aller Wahrscheinlichkeit nach weiter ansteigen, da heutige sogenannte Schwellen- und Entwicklungsländer ihren Konsum an westliche Standards anpassen. Unser Energieverbrauch und die damit verbundenen Emissionen sind zentraler Treiber des Klimawandels. Und jedes Produkt, das wir kaufen – auch, wenn es aus Kunststoff ist oder Kunststoffbestandteile hat – trägt zu diesem Energieverbrauch bei.
2) Plastik vermeiden ist eine Frage der Mitmenschlichkeit
Schauen wir uns einmal an, woher die Rohstoffe für die Kunststoffherstellung stammen, so stellen wir fest: oft sind es autoritäre Regime, die Erdöl, Erdgas und Kohle, die Hauptbestandteile von Kunststoff, fördern und exportieren. So befanden sich unter den 10 größten Erdölförderern des Jahres 2021 nur zwei Demokratien (USA und Kanada), dafür aber 8 eher zwielichtige Staaten: Russland, Saudi-Arabien, der Irak, China, der Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate, Brasilien und Kuwait. Diese Regime unterstützen wir mit jedem gekauften Stück Plastik und nehmen damit unfreie Wahlen, die Inhaftierung und Folter von sowie Mord an Regimegegnern, Korruption, die Einschränkung von Freiheitsrechten wie die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, fehlende Pressefreiheit und die Diskriminierung von Minderheiten in Kauf.
Zudem haben autoritäre Regime oft geringere Umwelt- und Sozialstandards, sodass der Abbau von Rohstoffen dort noch graviererende Folgen für die lokale Bevölkerung hat als im Westen, etwa weil Umweltschäden unrepariert bleiben und gesundheitliche Folgen nicht ausreichend behandelt werden. Die Bevölkerung ist in nichtdemokratischen Ländern von politischer Teilhabe ausgeschlossen und hat daher keine Möglichkeiten, über die Rohstoffgewinnung mitzuentscheiden. Ob und wie Rohstoffe gewonnen werden und wie der Gewinn daraus verwendet wird, liegt außerhalb der Entscheidungsgewalt der Menschen vor Ort. Während sie meist keine Entschädigungen für Enteignungen oder für Umweltschäden erhalten, profitiert in der Regel eine kleine politische Elite vom Rohstoffexport.

Auch Demokratien sind im Rohstoffgeschäft keine Waisenknaben. Unbestritten ist mittlerweile, dass die US-amerikanische Geopolitik (und mit ihr die vieler anderer westlicher Länder) nicht nur entlang militärischer und ideologischer, sondern auch wirtschaftlicher und damit rohstoffpolitischer Interessen erfolgt. Gerade bei Erdöl galt in den USA lange die Vorgabe, die eigenen Vorräte möglichst lange zu schonen und stattdessen auf die Erdölvorkommen anderer Länder zurückzugreifen – notfalls mit Gewalt. Findet also irgendwo auf der Welt ein bewaffneter Konflikt und eine militärische Intervention statt, müssen wir davon ausgehen, dass es um die Sicherung des Zugriffs auf Rohstoffe geht und Menschen für die Durchsetzung unserer Konsuminteressen (die teilweise so banal sind wie die Tomaten aus dem Supermarkt unbedingt in einer Plastikschale nach Hause tragen zu wollen) sterben.
Foto: Polizeieinsatz für den Wohlstand. Hambacher Forst 2018, Foto: Nils Ohlendorf
Nicht vergessen sollten wir dabei, dass es auch in Deutschland Menschen gibt, die für die Plastikproduktion enteignet werden und ihre Heimatorte verlassen müssen: Denn nach wie vor werden im Ruhrgebiet und in der Lausitz Dörfer umgesiedelt, weil sich Kohletagebaue im Namen von Partikularinteressen – etwa die von Energiekonzernen oder den Ministerpräsidenten der jeweiligen Region – mehr und mehr in die Landschaft fressen. Eine Liste aller bisher für den Kohleabbau und unseren Konsum zerstörten Ortschaften in Deutschland findet Ihr hier bei Wikipedia.
Wer eher ein emotionales Erlebnis braucht, um die eigenen Gewohnheiten zu ändern, dem sei ein Besuch in den Geisterdörfern der Kohletagebaue empfohlen: In totenstillen Straßen warten dort leerstehende und vernagelte, nun ganz leblose Häuser darauf, „bergbaulich in Anspruch genommen“ zu werden - so die offizielle Bezeichnung des Tagebaubetreibers RWE für die von ihm erworbenen Ortschaften des Tagebaus Hambach, etwa Manheim und Morschenich. Nach Beschlüssen in den 1970er (!) Jahren, die Dörfer abzureißen, begann man 40 Jahre später in den 2010er Jahren, die BewohnerInnen umzusiedeln. Im Falle Morschenichs wurde 2020 von RWE verkündet, dass das Dorf stehenbleiben darf - allerdings war der Großteil der Menschen da schon weggezogen. Energiekonzerne waren noch nie Menschenfreunde, und Freunde der Natur auch nicht. In dem wir Plastik vermeiden, können wir aber Solidarität zeigen mit unseren Mit-Menschen, die mal näher, mal ferner einen Preis zahlen für unseren Konsum.

3) Plastik vermeiden unterstützt kleine ProduzentInnen und HändlerInnen
Die Produkte großer Lebensmittel- und Verbrauchsgüterkonzerne sind teilweise so plastikintensiv verpackt, dass Umweltschutzorganisationen schon seit Jahren dafür plädieren, Hersteller endlich in die Verantwortung für die durch sie verursachte Plastikvermüllung zu nehmen.
- Coca Cola (Marken z.B. Coca Cola, Fanta, Sprite, Mezzo-Mix, Vio, Fuzetea, Lift, Powerade, daneben auch Apollinaris in der Glasflasche),
- Nestlé (z.B. Aqua Panna, San Pellegrino, Nespresso, Caro, Maggi, Thomy, Wagner Pizza, Garden Gourmet, etliche Schokoriegel und Felix Katzenfutter),
- Unilever (z.B. Ben & Jerry’s, Cornetto, Coral, Dove, Hellmann’s, Knorr, Langnese, Lipton, Pfanni, Rexona, Signal, Vienetta, Viss),
- Danone (z.B. Evian, Fruchtzwerge, Volvic, Actimel), Kraft Heinz (z.B. Kraft – Philadelphia –, Heinz, Caprisonne) und
- Mondelez (z.B. Oreo, Ritz, TUC, Milka, Toblerone)
und natürlich viele weitere große Marken wie Nivea und L’Oreal verkaufen ihre Produkte in Kunststoff verpackt – was einerseits Sinn ergibt, da die Produkte über Supermärkte vertrieben werden und daher haltbar, leicht zu transportieren und zu präsentieren sein müssen. Andererseits ist Kunststoff billig und die Vertriebswege wunderbar optimierbar, und das dürfte wohl das Hauptargument für die börsennotierten Konzerne sein, Kunststoff für die Produktverpackungen zu verwenden.
Ungeachtet aller Praktikabilität von Plastikverpackungen gäbe es durchaus Wege, diese mengenmäßig zu reduzieren und nebenbei auch Littering zu vermeiden. Coca Cola etwa könnte den Prozentsatz der Getränke, die es in Mehrwegflaschen abfüllt, erhöhen (derzeit sind es knapp 39 Prozent der Produktion, Stand 2021; die gesetzliche, allerdings selbstverpflichtende Mehrwegquote beträgt in Deutschland 70%), ebenso Nestlé (bisher 13%) und Danone (0%, Stand 2019). Nestlé könnte aufhören, Kaffeekapselsysteme zu verkaufen. Und Unilever könnte seine Dove-Pflegeprodukte zukünftig ohne Mikroplastik herstellen. Generell sind die oben genannten Hersteller natürlich nicht die nachhaltigsten (keines der genannten Produkte wird in Bioqualität hergestellt); und manchmal sind sie sogar halbkriminell unterwegs, wie etwa Nestlé, das an mehreren Standorten in den USA Wasser aus Quellen und Flüssen entnimmt, es in Flaschen abfüllt und hochprofitabel verkauft.
Die obenstehende Liste an Herstellern macht einen Großteil der Produkte jedes deutschen Supermarktes aus, und damit auch einen Großteil des deutschen Plastikmülls. Es ist nicht nur so, dass immer, wenn wir ein Produkt eines dieser Unternehmen kaufen, Plastik in unserem Einkaufswagen landet – es ist auch so, dass ganz oft, wenn wir Plastik kaufen, es sich um ein Produkt eines dieser Hersteller handelt.
Natürlich verpacken auch kleine Lebensmittel- und Verbrauchsgüterhersteller ihre Produkte oft in Plastik, sie sind aber rein prozentual für viel weniger Plastikmüll verantwortlich als die großen Konzerne. Und sie sind natürlich generell viel netter (auch wenn „nett“ noch nie eine Kategorie in der Wirtschaft war, aber vielleicht sollten wir sie einführen). Nehmen wir etwa den Biolandhof Kelly aus Herdwangen-Schönach im baden-württembergischen Linzgau. Der Familienbetrieb ist hauptsächlich für seine Süßlupinen bekannt, baut aber auch andere eher randständige Kulturen wie Mohn, Lein, Buchweizen und Erbsen an (Dinkel, Mais und Weizen aber auch). Der Anbau erfolgt nach Prinzipien des Bio-Siegels „Bioland“, Familie Kelly engagiert sich in der Pflege von Biotopflächen, die Tierhaltung ist artgerecht und die Biodiversität und Bodengesundheit wird gefördert. Der Hof verarbeitet seine Rohstoffe zwar teilweise weiter (etwa in Lupinenflocken, Lupinenkaffee und Lupinenöl), aber es handelt sich nicht um hochverarbeitete, in vielen Fällen ungesunde Produkte mit Zusatzstoffen, wie das bei den großen Herstellern der Fall ist. Das Motto des Hofes: „Produkte aus Leidenschaft!“. Ein Leitspruch, den man sich bei Coca-Cola und Nestlé irgendwie nicht so recht vorstellen kann. Andersherum kann man es sich bei den Kellys nicht so recht vorstellen, dass sie anderen Leuten das Wasser abgraben oder sich sonstwie kriminell in der Welt betun, um des Profits willen.
Die Produkte, die man als EndverbraucherIn im Onlineshop des Biohofs erwerben kann, sind zwar nicht plastikfrei verpackt. Familie Kelly beliefert aber zum Beispiel das Silo in Konstanz, einen Unverpackt-Laden, und zwar in Großgebinden im Papiersack. Wer hier einkauft, unterstützt also nicht nur ein kleines Lebensmittelgeschäft, sondern auch einen kleinen Erzeuger – wer bei einer Supermarktkette einkauft, unterstützt dagegen Konzerne mit Milliardenumsatz. Die großen Ketten wie Edeka, Rewe, Lidl und Aldi stehen nicht nur im Ruf, Erzeugerpreise zu drücken, sondern tragen auch zur geringen deutschen Mehrwegquote bei: Der Anteil an Mehrwegflaschen lag bei Lidl und Aldi im Jahr 2021 bei 0%.
4) Plastik vermeiden ist eine Kritik an unserem Wirtschaftssystem
Verpackung hat immer auch eine Werbefunktion: Sie bietet Platz für allerlei aufmerksamkeiterregende, bunte Claims und Bilder, mit denen KundInnen angelockt werden. Die Verpackung sorgt dafür, dass es im Supermarkt einen Wiedererkennungseffekt gibt, nachdem die KundIn das Produkt in der Fernseh-, Online- oder Printwerbung gesehen hat. Geht man dagegen in den Unverpacktladen, dann rufen die wenigsten Produkte „hier!“, insbesondere nicht im Lebensmittelbereich. Das Produkt, nicht die Verpackung steht im Mittelpunkt, und die Käufe erfolgen (so unterstelle ich mal) weniger lustbetont, sondern entlang eines echten Bedarfs. Konsumwünsche entstehen im Unverpackt-Bereich nicht, weil ich ein Produkt vorher in der Werbung gesehen habe, sondern weil ich es brauche. Nur wenn Zero Waste zum Lifestyle wird und der Hedonismus (der Genuss) vor dem Eudaimonismus (dem Sinn) kommt, erhält das Plastikvermeiden wieder einen Konsumaspekt und führt potenziell zu Überkonsumption.

Wer Plastik vermeidet, tritt also nahezu zwangsläufig in
eine so gut wie werbefreie Wirtschaftswelt ein. Wer in Plastik verpackte oder
aus Plastik bestehenden Produkte nicht mehr kauft, kauft automatisch nicht mehr von
Großkonzernen – einfach, weil diese gar nichts anderes herstellen. Wer
plastikfrei einkauft, dem bleibt zudem nichts anderes übrig, als alle seine
Konsumgewohnheiten zu überdenken und zu überlegen, was er wirklich zum Leben
braucht: Welches Produkt, das in Plastik verpackt ist, oder aus Plastik
besteht, möchte ich noch in meinem Leben haben? Viele Menschen, die plastikfrei
leben, empfinden dies als unheimliche Entlastung, denn die zur Verfügung
stehende Auswahl an Produkten in den konventionellen Geschäften ist derart
klein, dass sich das Einkaufen dort auf einige wenige Produkte reduziert und
irgendwann ganz wegfällt. Vermeidet man konsequent Plastik, führt dies früher
oder später zum Minimalismus, zumindest bei der Anschaffung neuer Dinge. Da der
plastikfrei lebende Mensch genau weiß, wo er welches Produkt bekommt, benötigt
sie/er weniger Zeit zum Einkaufen und in der Folge auch weniger Zeit für die
Pflege und die Entsorgung seines Besitzes sowie für die Mülllogistik (d.h. das
Müll-Wegbringen, das Müll-Auf-Die-Straße-Stellen, das Mülltonnen-Hereinholen,
das Abfuhr-Kalender-Lesen, das Mülltonnen-Bestellen, das Mülltonnen-Reinigen).
Foto: monomeer
Die freiwerdende Zeit kann man mit schönen Dingen verbringen oder mit weniger schönen, ganz nach Gusto. Die Chancen stehen aber gut, dass Menschen mit mehr Zeit diese für einen ökologischeren Lebensstil verwenden: Sie fangen vielleicht an, ihre Dinge zu reparieren statt wegzuwerfen und neu zu kaufen, sie bauen vielleicht selber Gemüse an und kochen frisch, statt verpackte Fertigprodukte einzukaufen, sie verbringen eventuell mehr Zeit mit anderen, statt sich abends nach einem langen – und ja leider oft sinnentleerten – Arbeitstag vor Netflix zu werfen. Wer konsequent Müll vermeidet, konsumiert weniger, muss daher weniger Geld verdienen, also weniger arbeiten, ist dadurch wiederum weniger gefrustet, benötigt aus diesem Grund auch weniger Konsumgüter, mit denen er seinen Frust befriedigt, und erzeugt auch da noch mal weniger Müll. (Sehr schön illustriert im Video von The Story of Stuff, insbesondere ab Minute 15:40 für den eben geschilderten Gedankengang, oder man schaut das ganze Video für eine Zusammenfassung unseres Wirtschaftskreislaufs).
Der der Marktwirtschaft zu Grunde liegenden Maxime, wonach die Wirtschaft permanent wachsen muss, läuft dieses Konzept natürlich zuwider. Für ein unendliches Wachstum müssen alle nämlich immer mehr und nicht weniger kaufen. Was dabei vergessen wird: Auf einem Planeten mit endlichen natürlichen Ressourcen kann es kein unbegrenztes Wachstum geben, das Prinzip des Wirtschaftswachstums zerstört unsere Lebensgrundlagen. Müll zu vermeiden und darüber in einen Konsumminimalismus zu kommen, ist daher Systemkritik. Nicht das "immer mehr" ist dann das Motto, sondern das "es ist genug".
Susan Rößner, September 2022